Generation: „halt die Klappe“ – von systematischer Selbstenteignung und Raubzug an Kinderseelen. Unsere Eltern. 

Guten Morgen zusammen,

ich bin noch immer ein wenig durcheinander. Die Ereignisse, die mich haben diesen Artikel haben schreiben lassen, stecken noch etwas in meinen Knochen.

Ich – ein 80er Jahre Kind. Meine Eltern waren die Generation, die im oder kurz nach dem Krieg geboren wurden. Sie sind teilweise sehr lieblos und pragmatisch erzogen wurden. Funktionierende Menschen, die nicht viel Arbeit machen. Ganz anders als es der heutige Erziehungsstil ist (bei den meisten Eltern). Ich nehme an, dass daraus sehr viel Mangel entstanden ist. Einen Mangel, den unsere Eltern nicht kompensieren konnten, indem sie einen Psychotherapeuten aufgesucht haben. Sie haben das mit sich selbst ausgemacht – oder mit uns Kindern.

Was mir häufig auffällt, ist, dass diese Generation häufig ebenso funktionierende Kinder hervorbringen wollten. Es gilt nicht für alle – aber ich beobachte doch so einige, die dasselbe berichten, was ich es erlebt habe. Oft wurde man als Kind mit zuviel Verantwortung bestückt, so viel, dass es unsere kleinen Schultern nicht tragen konnten. Immer im Glauben unsere Eltern retten zu können. Jetzt, hier und heute erkenne ich das Problem etwas klarer. Wir sollten etwas kompensieren, was unsere Großeltern nicht schafften. Wir sollen heute unseren Eltern die Liebe entgegen bringen, die sie nicht erhalten haben. Ist es uns möglich? Teilweise leider nicht, denn wir haben als Kinder zu schwer getragen. Wir haben zum Teil mittlerweile selbst Kinder und versuchen unser Bestes, um diesen Fluch zu durchbrechen.

Um ein gut funktionierendes Tragtier zu werden erforderte es, unseren Willen hier und da zu brechen. Individualität und Persönlichkeitsentwicklung fehl am Platz. Immer im Glauben daran, dass es so sein muss, dass es keinen anderen Weg gibt, folgte man seinen Eltern. Man gab Stück für Stück mehr von sich auf, zum Wohle der Eltern. Man orientierte sich an ihrer Laune, an ihrem Blick und and ihren Gesten. Aber warum? Warum hatte man als Kind so Angst, dass etwas schlimmes passieren würde, wenn wir ausbrechen? Vielleicht nur mal ein kleines bisschen. Etwas neben dem Weg herumhüpfen? Nein – ich habe mich das nicht gewagt. Ich hatte Angst meine Mutter zu zerstören, unglaublich zu verletzten und zu enttäuschen. Also folgte ich.

Als Kind spürte ich diese Enge nicht, ich empfand sie sogar teilweise als wohlig. Als ich älter wurde, die Pubertät mich überrollte, spürte ich den erstmals den Drang leben zu wollen. Tanzen, Alkohol ausprobieren, Nachts mit dem Rad unterwegs sein, heimlich rauchen usw. Aber da stand sie immer – meine unsichtbare Mutter – sie schüttelte den Kopf und machte ein enttäuschtes Gesicht. Ich versuchte einen Kompromiss zu finden. Es gelang mir nicht. Ich wurde älter und älter und lebte ausgehöhlt, ohne mein eigenes Ich. Als ich selbst Mutter wurde, begann ich darüber nachzudenken, was mit geschehen ist. Durch die Konfrontationen  mit Eltern und Schwiegereltern fiel es mir nicht schwer zu erkennen, wie unsere Erziehung geprägt war. „Oma ist aber traurig, wenn Du jetzt nicht…“, „Nein, Du darfst Dich jetzt nicht schmutzig machen“, oder „Mach nur – ich guck nicht hin – ich bin zu schwach um mich zu kümmern“. Ich war oft schockiert. Wir als Eltern wurden oft nicht respektiert. Selbst die Elternschaft wurde uns oft abgesprochen – dazu sind wir gar nicht in der Lage – unsere Eltern können das besser. Ich habe Stück für Stück erkannt, dass ich während all meiner wichtigen Entwicklungsstufen gestört wurde, bzw. zu sehr beeinflusst wurde. Ich hatte gar nie die Gelegenheit mich selbst zu formen, mein eigenes Inneres so einzurichten wie es mir gefällt. Es bestand alles aus Inventar, welches meine Familie dort eingeräumt hatte. Habe ich den zaghaften Versuch gestartet mich zu individualisieren, fand der Raubzug statt. Ich wurde Selbstenteignet.

Es war uns nicht gestattet sich zu wehren. Für uns einzustehen. Dafür waren wir nicht gemacht. Ich habe mein inneres Kind nie gepflegt. Auch nie gesehen. Denn es saß seit Jahrzehnten zusammengekauert versteckt in einer Ecke. Ungepflegt, unterernährt. Mittlerweile hatte es aufgehört zu weinen und hatte nur noch einen leeren Blick.

Viele Menschen aus meinem Bekanntenkreis sind ähnlich aufgewachsen und aber unterschiedlich mit ihrer Vergangenheit umgegangen. Der eine bildete psychopathische Züge aus. Dies tut er nicht, weil er es will – sondern er hat es gebraucht um zu überleben. Die ständige Abspaltung in der Vergangenheit hat sich so weit manifestiert, dass er nichts mehr fühlen kann. Er lebt die abgespaltete Form von sich selbst und nicht mehr sein wahres ich, das hat er irgendwo verloren. Er hat schon als Kind angefangen sich abzuspalten in Situationen, die ihm furchtbaren seelischen Schmerz zugefügt haben, nur um diese auszuhalten. Diese Persönlichkeiten werden heutzutage leider leider leider im Berufsleben sehr gefragt. Sie werden als gefühllose Drohnen eingesetzt. Skrupel und Emotionen nicht erwünscht. Prima, denn sie spüren ja auch nichts mehr. Aus einem ernsten seelischen / psychischen Problem wird Profit geschlagen. Es bestärkt diese armen Menschen leider immer weiter darin.

„Dann gibt es noch diejenigen, die es nie gewohnt waren, dass ihre Gefühle und Emotionen irgendwo eine Rolle spielen. Sie haben es aber nie geschafft sich abzuspalten, da ihre emotionale Intelligenz gefragt war, bei der Rettung der eigenen Eltern. Sie sind im Laufe der Jahre hochsensibel geworden. Erkennen jegliche Stimmungen, sind die perfekten Zuhörer und Problemwälzer. Immer Hilfsbereit und zur Stelle. So definieren sie sich. Sie meinen ihre einzige Qualität sei es, immer für andere da zu sein. Bloß niemals aufhören – dann mag mich niemand mehr“. Emotionale Erpressung war das leitende Thema in Ihrer Erziehung. Sie geben sich hin, opfern sich auf und spüren ihre eigenen Grenzen nicht mehr. Im Grunde sind sie leer und versuchen das Loch in ihnen selbst immer mit der Leistung zu stopfen, anderen zu helfen. Das erfüllt bis zu einem gewissen Grad schon, aber nicht wenn man ein Loch in seinem Herzen trägt, was immer dafür sorgt, dass diese guten Gefühle wieder abfließen. Rastlos und immer auf der Suche erschöpfen sie eines Tages. Sie fallen in sich zusammen und sehen keinen Sinn mehr. Die Folgen können ein Burn-Out, Depressionen oder langanhaltende depressive Verstimmungen sein, begleitet von Panikstörungen und Angst.

Wir sollten doch immer die Klappe halten.

Einigen aus unserer Generation ist es gar nicht so ergangen. Sie haben feste Wurzeln und wurden immer so geliebt wie sie waren. Sie haben ein tiefes Selbstbewusstsein. Sie kämpfen natürlich auch mit den Herausforderungen des Lebens, aber ihnen steht ein ganz anderes Werkzeug zur Verfügung.

Nach langen Jahren habe ich erkannt, dass das nicht mein Weg ist. Noch immer ist es so, dass ich mir meine Mühsam meine Einzelteile zusammensetze, aus denen ich zum Zeitpunkt meiner Geburt bestand. Es ist eine Art archäologische Arbeit. Eine dauernde Ausgrabung meines Ichs. Ich entdecke auch allein schon durch meine Tochter immer mehr Eigenschaften, die mich schmunzeln lassen. Die mich erinnern lassen, wie albern ich als Kind war. Wie gerne ich gelacht habe. Was ich für Quatsch angestellt habe und wie sehr ich es geliebt habe stundenlang der Realität zu entfliehen und vertieft gemalt oder gespielt habe. Das waren die kleinen Pausen, die ich hatte. Es gab eine Zeit in meinem Leben, da hatte ich nichts mehr. Keine Erinnerungen, keine Talente, keine Fähigkeiten, keine Passionen. Stück für Stück und sehr mühsamnhabe ich diese wieder zu einer Persönlichkeit zusammengesetzt, welche ich noch heute vor meiner Vergangenheit schützen muss. Noch heute wird von der älteren Generation verlangt den Mund zu halten. Das eigene Ich gefällt nicht, es muss umerzogen werden.

Es schockiert mich und ich bin hier und da auch ein wenig zu unvorsichtig gewesen und habe mich dem Feuer – ohne geeigneten Anzug genähert, aber ich habe es dennoch immer wieder geschafft, mich wieder zusammenzusetzen und zwar genau so, wie ICH es bin. Auch habe ich eine ganze Zeit lang versucht, den Segen der älteren Generation zu erhalten. Ich wollte einen Kompromiss aushandeln. Aber das ist nicht ganz möglich. Am Ziel bin ich lange nicht, aber ich bin aus der kritischen Zone. Ich kann zumindest fühlen. Fühlen wo meine Grenzen sind und wann ich mich entziehen sollte.

Meine feinen Antennen, die ich im Laufe der Jahre ausbilden musste sind eine gute Eigenschaft, die ich nicht ganz loswerden möchte, aber ich arbeite daran sie etwas zu desensibilisieren. Sie waren ständig auf Daueralarm, was es mir teilweise unerträglich gemacht hat, Menschenmengen aufzusuchen. Diese gemischten Gefühle, diese Lautstärke und die ständig und überall lauernde Gefahr.

Spätestens wenn Liebe ins Spiel kommt, kommen die mannigfaltigen Geister der Vergangenheit zum Vorschein. Der eine kann sie nicht erwidern, weil er es nicht gelernt hat und der andere ist davon überzeugt sie nicht zu verdienen. Wie aber auch in meinen vergangenen Texten: Es lohnt sich daran zu arbeiten. Es ist eine Arbeit für sich selbst. Eine Chance sich weiterzuentwickeln, bzw. die Entwicklung nachzuholen, die einem schon als Kind oder Jugendlicher zugestanden hätte. Es ist ein schmerzhafter Weg, gepflastert mit Trauer und Verbitterung, aber das Ziel des Weges ist das eigene Ich. Ein Ich, was eine gesunde Basis errichtet hat, bestehend aus Vertrauen und Liebe – für sich und andere. Es ist eine ganz andere Liebe. Eine zufriedene Liebe. Beständig und klar. So tief, dass sie auch verzeihen lässt.